Eine agile Vordenkerin: Christiane Floyd

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In der deutschen Version des agilen Manifests1 ist zwar (gegendert) von den „AutorInnen“ die Rede, aber tatsächlich ist unter den 17 Autoren keine einzige Frau! Das mir immer schon seltsam altmodisch erschienene Bild, das der gesamten WebSite als Hintergrund unterlegt ist, zeigt folgerichtig 5 Männer von hinten, alle in weiten, teils großkarierten Hemden und unförmigen Hosen, die einem vollbärtigem Mann an einem Whiteboard zusehen und -hören – soweit zur Stilkritik.

Wie bei jeder Innovation gab es natürlich auch für die agile Software-Entwicklung Vorläufer:innen. Eine mir bis dato völlig unbekannte ist die aus Wien stammende Informatikerin Christiane Floyd, die auch „im Jahr 1978 als erste Frau im deutschsprachigen Raum zur Professorin für Informatik“ berufen wird; so jedenfalls vermeldet es die ZEIT in ihrem Artikel2 über sie (es existiert auch noch ein älterer ZEIT-Artikel3, der online abrufbar ist). Die ZEIT schreibt weiter: „Floyd plädiert dafür, Programme in Zyklen zu entwickeln und die Anwender von Anfang an einzubeziehen.“ Ihr wichtigster Grundsatz:

„Den Nutzern auf Augenhöhe begegnen“

Das erinnert nicht nur stark an agile Software-Entwicklung, das ist agile Software-Entwicklung, und eine Nähe zu Design Thinking drängt sich ebenfalls auf. Ihre meist männlichen Kollegen standen diesen Konzepten, laut der ZEIT, gelinde gesagt skeptisch bis ablehnend (abwertend und herablassend wären sicher auch vertretbare Bezeichnungen dafür) gegenüber: „Viele ihrer Kollegen taten sie als unwissenschaftlich ab oder fragten, ob es ‘noch Informatik, bald Informatik oder schon etwas anderes’ sei“.

Ihre männlichen Kollegen benötigten länger, um mit ihren Erkenntnissen mitzuhalten: Der erste Konferenzbeitrag über Scrum stammt aus dem Jahr 19954, das erste Buch darüber aus 2001, das agile Manifest ebenfalls.

Interessant in diesem Zusammenhang auch die Reminiszenz an die frühe Zeit der kommerziellen Software-Entwicklung: In dem Wikipedia-Artikel5 zu Christiane Floyd ist eine Archiv-Version eines Artikels 6 aus der Computerwoche vom 21.11.1075 verlinkt. Die beiden folgenden Zitate daraus illustrieren treffend, wie damals Software entwickelt wurde: „Sind statt Schablone, Zettel und Bleistift nunmehr Funktionstasten am Bildschirm die künftigen Werkzeuge der Programmierer?“ wird ernsthaft gefragt und „Sollten wir das System PET [Anm: von Frau Floyd bei Softlab mitentwickelt] einsetzen, müssen wir unsere Herren Programmierer auf einen Schreibmaschinenkurs schicken.“ scherzhaft geantwortet. Anscheinend wurden damals zuerst fleißig Fluss- oder Nassi-Shneiderman-Diagramme auf Papier gezeichnet, bevor überhaupt ans Coding gedacht wurde. In meiner eigenen Erinnerung sehe ich mich einige Jahre später als studentische Hilfskraft noch FORTRAN-Programme mit Kugelschreiber auf Papier schreiben, um sie dann an einem der wenigen verfügbaren Terminals der nagelneuen Digital VAX 730 des Instituts einzugeben.

Wenn man sich diesen zeitlichen Kontext vor Augen führt, wird erst richtig klar, wie weit Christiane Floyd ihrer Zeit voraus war, als sie neue Paradigmen für die Software-Entwicklung propagierte.


  1. Beck, K., Beedle, M., Bennekum, A. v., Cockburn, A., Cunningham, W., Fowler, M., … Thomas, D. (2001). Manifest für Agile Softwareentwicklung. Abgerufen 23. Februar 2020, von agilemanifesto.org/iso/de/manifesto.html 

  2. Nezik, A.-K. (2020, Februar 13). Mit ihr muss man rechnen. DIE ZEIT, 32. 

  3. Thumfart, J. (2011, März 29). Christiane Floyd: Emanzipation durch Computer. Abgerufen 25. Februar 2020, von zeit.de/digital/internet/2011-03/floyd-informatik-frauen 

  4. Wikipedia-Autoren. (2005, Januar 19). Scrum. Abgerufen 23. Februar 2020, von de.wikipedia.org/wiki/Scrum 

  5. Wikipedia-Autoren. (2005, April 20). Christiane Floyd. Abgerufen 23. Februar 2020, von de.wikipedia.org/wiki/Christiane_Floyd 

  6. Computerwoche. (1975, November 21). Interaktives Programmieren als Systems-Schlager - computerwoche.de - Archiv 1975 / 47. Abgerufen 23. Februar 2020, von web.archive.org/web/20081221145834/computerwoche.de/heftarchiv/1975/47/1205421