Der Mythos des individuellen Denkens und seine Folgen
Im Blog-Artikel „Der Mythos des individuellen Denkes und die Macht der kollektiven Weisheit“ habe ich versucht, die aus meiner Perspektive wichtigen Aspekte aus dem Buch „The Knowledge Illusion: The myth of individual thought and the power of collective wisdom“ von Sloman und Fernbach zusammenzufassen und zu erläutern. In dieser Fortsetzung geht es mir um einen besseren Umgang mit der Tatsache, dass sich nur der geringste Teil des Wissens, das wir als Individuen benötigen, innerhalb unseres eigenen Kopfes befindet.
Zur Erinnerung hier die wichtigsten Thesen des Buches noch einmal zusammengefasst:
- Individuell und ohne die Hilfsmittel, auf die wir uns beim Denken unbewusst verlassen, sind wir ignoranter als wir denken: Wir halten uns für kompetenter als wir sind.
- Wenn wir glauben zu verstehen, erliegen wir oft nur einer Illusion.
- Wirkliche Kompetenz ist kollektiv und nutzt die Wissensgemeinschaft der Menschheit.
Das Problem besteht nicht darin, dass wir als Individuen wenig wissen, sondern darin, dass uns das nicht klar ist.
Wir unterscheiden nicht klar genug zwischen dem, was wir wirklich selbst wissen und zwischen dem, was entweder andere (sozusagen stellvertretend für uns) wissen oder was uns unsere Umwelt (gleichsam als Bibliothek, in der wir jederzeit nachschlagen können) zur Verfügung stellt.
Ein besserer Umgang mit der kollektiven Weisheit
Unser individuelles „Wissen“ ist abhängig von unserer Umwelt und insbesondere von modernen digitalen Informationssystemen. Wir denken nicht nur mit unserem Hirn: Wir denken mit dem ganzen Körper, mit den von uns hergestellten Dingen und mit Hilfe der für uns zugreifbaren unmittelbaren Umwelt.
Gerade für die Wissensarbeit ist die direkte Umwelt, in der wir uns während der Arbeit aufhalten, mit der wir interagieren, in der wir uns mit unserem Körper bewegen, wichtig. Seine Anwendung findet diese Erkenntnis z.B. in agilen Praktiken, die sich gerade nicht elektronischer Hilfsmittel bedienen, sondern auf physische Hilfsmittel wie z.B. Post-its zurückgreifen, die an die Wand oder ein Kanban-Board geheftet werden. Oder auch in modernen Büroarchitekturen, die für die verschiedenen Bedürfnisse eines Wissenarbeiters während seiner Arbeit angepasste Angebote bereithalten, abhängig davon, ob gerade Einzelarbeit, Meetings und Kommunikation oder kreative Zusammenarbeit im Vordergrund stehen.
Nicht nur das: Unser Zugang zu Wissensquellen im globalen Internet und die (meist) digitalen Werkzeuge, die wir verwenden, sind essentiell für unsere Arbeit. Das Internet hat vieles von dem erst ermöglicht, was uns technologisch heute selbstverständlich erscheint.
Unsere Abhängigkeit akzeptieren
Das Leben eines Software-Entwicklers ist heute ein ganz anderes als vor 40 Jahren: Das Internet existierte nicht, der PC war gerade erfunden und Entwicklungswerkzeuge vermissten viele Funktionen, die heute selbstverständlich sind. Nur wenige Software-Bibliotheken existierten oder waren gar frei verfügbar, Stackoverflow oder andere Communities im Internet waren einen Technologiesprung und nicht nur einen Mausklick weit entfernt, stattdessen dienten Bücher (mit Disketten als Beigabe) der Weitergabe von Wissen. Programmierer:innen mussten die jeweilige Programmiersprache und ihre Syntax gut beherrschen, denn Fehler zeigten sich erst nach der Kompilierung in dem dabei erzeugten Papierstapel. Ohne gedruckte Handbücher war man verloren. …