Digitalisierung des Gesellschaftssystems
Wie kann man Menschen in einer Gesellschaft so beeinflussen und steuern, dass sie sich den Vorstellungen der Regierung gemäß verhalten und was kann die Digitalisierung dazu beitragen?
Ein Versuch dazu läuft derzeit in China in Rongcheng in der Provinz Shandong. Die Tagesschau berichtete1 darüber bereits im Mai 2017, der Focus2 im November und auf dem 34C33 wurde dazu ein Vortrag gehalten. In diesem Pilotprojekt geht es darum, dass jeder teilnehmende Bürger eine Punktekonto besitzt, auf dem Pluspunkte für erwünschtes und Minuspunkte für unliebsames Verhalten der Bürger protokolliert werden. An den möglichst positiven Punktestand sind Vergünstigungen wie verbilligte Kredite aber auch Sanktionen geknüpft: “Die unterste Klasse ist D. Diese Leute dürfen keine Führungspositionen mehr besetzen, bekommen Leistungen gestrichen und haben keine Kreditwürdigkeit mehr.” (Tagesschau)
Nicht nur in Rongcheng - dort ist man anscheinend nur besonders weit – sondern landesweit liefern Behörden alle digital über Chinas Bürger verfügbare Daten in eine zentrale Datenbank; auf dieser Basis werden die Punkte ermittelt für das “gesellschaftliche Bonitätssystem” oder auch “Social Credit System” bzw. “Sozialkreditsystem”.
Eine Reihe von zusätzlichen Details zu dem geplanten und schon in Erprobung befindlichen Überwachungssystem ergeben sich aus einem Interview 4 in der ZEIT mit der Sinologin Mareike Ohlberg.
Ein weiteres Projekt wurde laut t3n5 unlängst in “Nansha, einem Stadtteil der Elf-Millionen-Metropole Guangzhou im südlichen China” ausgerollt: dort ist es möglich, sein WeChat-Konto mit der eigenen ID-Karte zu verknüpfen und so zukünftig noch mehr Behördenvorgänge mittels WeChat zu erledigen. WeChat ist in China sehr populär und wird für weit mehr als für Chats genutzt.
Dieses Bit dient dazu, die mir wichtigen Aspekte zu diesem Thema aus den obigen und weiteren Quellen 6 7 zu sammeln und zu ordnen.
Allgemeines
- Privatpersonen, Beamte, Behörden, inländische Unternehmen, ausländische Unternehmen mit Niederlassung in China und NGOs werden von dem System bewertet.
- Geplant und implementiert wird eine zentrale Plattform, in der die Daten aus den verschiedenen Quellen zusammenlaufen.
- Es muss unterschieden werden zwischen einem System zur Beurteilung der Kreditwürdigkeit und weitergehenden Pilotprojekten, mit denen eine Beurteilung der “generellen Glaubwürdigkeit” (M. Ohlberg laut Kalkhof) angestrebt wird.
- Aktuell konkurrieren anscheinend insgesamt 8 Unternehmen mit ihren jeweiligen Vorstellungen und Implementierungen darum, ihr jeweiliges System zu etablieren.
- Laut Landwehr in einem Artikel auf Heise Online8 gibt es in China schon einen analogen Vorläufer in Form des Dang’an, einer Akte, die alle Menschen ihr Leben über begleitet: “Als der Kommunismus kam, führten “Arbeitseinheiten” (Danwei) eine Personalakte für jeden Genossen. Die “Dang’an” enthielt Werdegang, Bewertungen von Vorgesetzten, politische Haltung, Regelverstöße und auch private Informationen. “
- Semsrott vergleicht in der c’t 9 das Schufa-Scoring mit dem chinesischen Sozialkreditsystem und schreibt: “Die Versuchung, Menschen alleine mit Zahlen zu beschreiben, ist groß. Nicht nur Unternehmen (Anm: gemeint ist die “Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung” (Schufa)) entwickeln Verfahren, um mit Scoring den Wert von Menschen zu ermitteln. Inzwischen haben vor allem Regierungen erkannt, dass das Scoring ihnen auch dabei helfen kann, die Bevölkerung effektiver zu kontrollieren.”
Schwierigkeiten und Hindernisse bei der Umsetzung
- Technische Probleme, die anfallenden Datenmassen in Echtzeit zu generieren und auszuwerten
- Unterschiedliche Identifikationsnummern für ein Unternehmen in verschiedenen Ministerien
- Abstimmungsbedarf zwischen den Ministerien und Behörden
Datenquellen
- Verschiedene Regierungsstellen wie Finanzbehörden, Sozialkassen, usw.; z.Zt. mehr als 50 Stellen.
- Kreditinstitute, Banken
- Internetkonzerne wie Baidu, Alibaba, Tencent (WeChat)
- Telekommunikationskonzerne
Art der erfassten Daten
- Verkehrsverstöße
- Verstöße von Unternehmen gegen Umweltauflagen oder das Markenrecht
- Schuldnerstatus und Daten über die Rückzahlung von Krediten
- Einkaufsverhalten im Internet
- Posts in sozialen Medien
- Familienstand
- Strafregister
- Unterhaltszahlungen
- “Im Dorf Daxunjiangjia wird zusätzlich benotet, ob Nachbarn streiten. Und wie Kinder ihre alten Eltern unterstützen.” (Landwehr, 2018)
Bewertung
- AAA = “vorbildlich” (1300 Punkte)
- A = “guter Bürger” (1000 Punkte, der Wert, mit dem jeder startet)
- C (600 – 850 Punkte)
- D = “unehrlich” (< 600 Punkte)
- Alle mit einer “AAA”-Bewertung kommen auf die “rote” Liste, ab einer gewissen unteren Grenze gerät man auf die “schwarze” Liste.
- Minuspunkte können durch Beteiligung an positiv bewerteten sozialen Aktivitäten und Institutionen ausgeglichen werden.
Sanktionen
- Diejenigen auf der “roten Liste” werden bevorzugt behandelt: Sie werden bevorzugt z.B. bei der Zulassung zu Schulen, bei Sozialleistungen und der Vergabe von Krediten, müssen ggf. weniger Heizkosten bezahlen, bekommen Leihfahräder umsonst, können Bücher umsonst entleihen.
- Bewertungen fließen z.B. auch in eine Dating-App ein: “Wer sich also nicht systemkonform verhält oder gar auf das Punktesystem verzichtet, hat schlechtere Chancen, einen Partner zu finden. ” (Kleinz)
- Diejenigen auf der schwarzen Liste unterliegen unterschiedlichen Abstufungen von Sanktionen:
- Tickets für Flugzeuge und Hochgeschwindigkeitszüge werden Privatpersonen und ggf. Unternehmenschefs verwehrt
- Unternehmen bekommen keine Subventionen mehr
- Unternehmen können nicht mehr an öffentlichen Ausschreibungen teilnehmen
- Keine Berücksichtigung bei Beförderungen
Gesellschaftliche und soziale Auswirkungen
Big Data auf der Ebene der Gesellschaft: Wir digitalisieren, sammeln und speichern erst einmal alles. Und dann sehen wir, was wir mit den Daten anfangen können. Wer nichts verbergen hat, muss auch nichts befürchten: „Ich gebe gern noch mehr Daten her, wenn ich dafür belohnt werde.“ (Focus)
Ziele dieser Datensammlung und -auswertung sind im Unterschied zu westlichen Ländern nicht die Verbraucher mit dem Ziel, ihre Gewohnheiten zur Steuerung und Optimierung seines Konsums möglichst gut kennenzulernen, sondern die Staatsbürger, mit dem Ziel ihr soziales Verhalten zu beeinflussen.
“Es gibt jetzt schon vereinzelte Presseberichte über Manipulation und Datenhandel. Es scheinen Anbieter aus dem Boden zu sprießen, die versprechen, Bewertungen aufzubessern und Einträge auf schwarzen Listen zu löschen.” (M. Ohlberg laut Kalkhof)
“Ich glaube, den meisten Chinesen ist gar nicht klar, was auf sie zukommt. […] Das liegt auch daran, dass viele der Probleme, die das System lösen soll, für die meisten Chinesen ganz reale Sorgen sind. […] Probleme mit Lebensmittelsicherheit, aber auch mit Umweltverschmutzung und Markenrechtsverletzungen. Es gibt in der chinesischen Gesellschaft ein großes Vertrauensproblem.” (M. Ohlberg laut Kalkhof)
Ob jemand mit seinem Hund Gassi gehe oder seine Eltern besuche, dürfe nicht bewertet werden, meint der regierungskritische Autor Murong Xuecun laut Landwehr (2018) dazu: “Anstand geht die Regierung nichts an”.
In einem News-Artikel 10 auf Heise online stellt Tilman Wittehorst eine Verbindung her zwischen dem Sozialkreditsystem und der Ankündigung des chinesischen Microblogging-Dienstes Weibo, die Äußerungen von Benutzern u.a. auf Homosexualität hin zu überwachen bzw. von unzulässigen Äußerungen zu “säubern”. Diese Verbindung liegt nahe, wenn man von der berechtigten und vielfach fundierten Annahme ausgeht, dass in China wenig ohne Billigung des States geschieht. Dies könnte zukünftig bedeuten, dass Menschen in China allein aufgrund ihrer sexuellen Orientierung Minuspunkte auf ihrem Konto sammeln, sofern der Algorithmus dies so vorsieht. Der Artikel auf Heise online ist übrigens fast gleichlautend zu einer von der Tagessschau am gleichen Tag veröffentlichten Meldung 11.
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ARD Tagesschau. (2017, 26. Mai). Überwachung total made in China. Abgerufen 21. Januar, 2018, von tagesschau.de/ausland/china-ueberwachung-101.html ↩
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FOCUS online. (2018, 25. November). Die Übermenschen von Rongcheng. Abgerufen 21. Januar, 2018, von focus.de/magazin/archiv/politik-die-uebermenschen-von-rongcheng_id_7890358.html ↩
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Kleinz, T. (2017, 28. Dezember). 34C3: China - Die maschinenlesbare Bevölkerung. Abgerufen 21. Januar, 2018, von heise.de/newsticker/meldung/34C3-China-Die-maschinenlesbare-Bevoelkerung-3928422.html ↩
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Kalkhof, M. (2018, 4. Januar). “Totalitarismus ist ein großes Wort”. DIE ZEIT, S. 31. ↩
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t3n. (2017, 28. Dezember). Überwachung auf allen Kanälen? Wechat-Konto soll mit chinesischer ID verknüpft werden. Abgerufen 21. Januar, 2018, von t3n.de/news/china-wechat-id-karte-895656 ↩
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Deutschlandfunk Kultur. (2017, 5. September). Auf dem Weg in die IT-Diktatur. Abgerufen 21. Januar, 2018, von deutschlandfunkkultur.de/chinas-sozialkredit-system-auf-dem-weg-in-die-it-diktatur.979.de.html ↩
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Assheuer, T. (2017, 30. November). Die Big-Data-Diktatur. DIE ZEIT, S. 47. ↩
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Landwehr, A. (2018, 1. März). China schafft digitales Punktesystem für den “besseren” Menschen. Abgerufen 3. März, 2018, von heise.de/newsticker/meldung/China-schafft-digitales-Punktesystem-fuer-den-besseren-Menschen-3983746.html ↩
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Semsrott, A. (2018, 3. März). Harte Nuss - Bürgerbewegung will Schufa-Algorithmen entschlüsseln. c’t magazin für computer technik, 6(2018), 16-17. ↩
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Wittenhorst, T. (2018, 14. April). Mikroblogging: Chinesische Plattform Weibo verbannt homosexuelle Inhalte. Abgerufen 15. April, 2018, von heise.de/newsticker/meldung/Mikroblogging-Chinesische-Plattform-Weibo-verbannt-homosexuelle-Inhalte-4024328.html ↩
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ARD Tagesschau. (2018, 14. April). Chinas Kurznachrichtendienst Weibo verbannt homosexuelle Inhalte. Abgerufen 15. April, 2018, von tagesschau.de/ausland/china-homosexualitaet-weibo-101.html ↩