Digitalisierung: Der Rettungsring für Command & Control
In der Printausgabe der ZEIT vom 23.11.2017 las ich kürzlich ein Dossier von Henning Sußebach, das unabhängig vom Fokus dieses Blog-Beitrages überaus lesenswert ist. Der Artikel „Frau Müller muss fragen“ ist online nur für Abonnenten verfügbar, daher zunächst eine kurze Inhaltsangabe als Hintergrund:
Henning Sußebach wundert sich eines Tages, warum er in der Tankstelle seines Vertrauens ständig gefragt wird, ob er ein Heißgetränk möchte und eine Payback-Karte habe, obwohl er das schon oft verneint hat. Er fragt nach, zunächst die Verkäuferin, dann nimmt er die Frage, die er nicht zufriedenstellend klären kann, als Anlass für eine Recherche. Der Mineralölkonzern gibt sich zugeknöpft. Er bekommt Informationen von Insidern in persona von Tankstellenpächtern, die aber anonym bleiben wollen, um ihre Geschäftsbeziehung nicht zu gefährden. Im Verlauf der Recherche entwickelt sich nach und nach ein Gesamtbild einer durchrationalisierten, auf Effizienz getrimmten Verkaufsorganisation, in der alles und jedes geregelt ist, um in einem Verdrängungsmarkt, in dem eine Differenzierung durch Innovationen nicht mehr möglich ist, bei Niedrigmargen gegen die Konkurrenz bestehen zu können.
In diesem Blog-Beitrag geht es mir um einzelne, besonders bemerkenswerte Aspekte aus dem Artikel insbesondere in Hinsicht auf die durch die Digitalisierung erweiterten Möglichkeiten der Kontrolle und Steuerung.
Hierarchische Organisation ohne Transparenz
Die Vertriebsorganisation des Mineralölkonzerns ist anscheinend streng hierarchisch organisiert. Ganz unten in der Pyramide stehen die ca. 2.500 Tankstellen, direkt darüber 80 Bezirksleiter, die an 9 Distriktleiter berichten. Darüber noch der Vertriebsmanager, der dem Vorstandsvorsitzenden von Deutschland unterstellt ist. Ganz oben an der Spitze des globalen Unternehmens der CEO. Soweit nicht überraschend für ein Organigramm eines großen Unternehmens. Zumindest auf der Ebene der Tankstellen wird diese Struktur auch in Reinform gelebt: Jeder Tankstellenpächter kommuniziert nur mit seinem für ihn zuständigen Bezirksleiter, weitere Ansprechpartner kennt er nicht, Querverbindungen gibt es keine:
„Das wäre ja Transparenz, die ist nicht vorgesehen.“
kommentiert dies ein Gewährsmann.
Informationsfluss: Von der Peripherie in die Zentrale
An der Schnittstelle zum Konsumenten wird möglichst alles erfasst bzw. gemessen: Welche Kunden kaufen welche Produkte? Wie lange dauert welcher Vorgang? Wie viel Personal wird wann benötigt? Wer arbeitet in welchem Umfang für welchen Lohn? Detaillierte Verkaufszahlen. Wie oft Payback-Karten eingelesen wurden. Das Kassensystem ist anscheinend direkt mit der Firmenzentrale verbunden. Jeder Pächter muss zu Beginn der Vertragsbeziehung eine sog. „Offenlegungsermächtigung“ unterschreiben, damit der Mineralölkonzern Einblick in seine Zahlen erhält.
Steuerung: Von der Zentrale in die Peripherie
Die Steuerung wirkt in umgekehrter Richtung: Änderungen des Benzinpreises werden direkt an die Kasse übermittelt. Für jede einzelne Tätigkeit werden detaillierte Zeitbudgets vorgegeben, die Präsentation der Waren in den Regalen wird ebenfalls nicht dem Zufall oder der Phantasie des Pächters überlassen. Diese müssen Rechenschaft ablegen, wenn ihr Umsatz oder Payback-Punktzahlen schlechter als der Durchschnitt ausfallen. „Testkunden“ überprüfen immer wieder vor Ort die Einhaltung der Vorgaben.
Diese Richtlinien basieren auf Auswertungen, die mittels Data-Science-Techniken (Stichwort: Data Mining) durchgeführt werden, und die zu Erkenntnissen kommen wie z.B. der, dass Payback-Kunden loyaler sind, weil sie eine um drei Prozent höhere „Wiederkaufrate“ gegenüber Nicht-Payback-Kunden haben. Um diese nicht sehr groß erscheinenden Unterschiede zwischen zwei verschiedenen Konsumentengruppen überhaupt mit ausreichender Genauigkeit ermitteln zu können, werden sehr große Datenmengen über das Einkaufsverhalten der Kunden benötigt. Die naheliegende Quelle dafür sind die Informationen, die von den Tankstellen an die Zentrale geliefert werden.
Ein Versprechen der Digitalisierung
Je besser ein Unternehmen die eigene Kundschaft und ihr Verhalten kennt – je besser das Verhalten also gemessen werden kann – desto zielgerichteter können Kundenbedürfnisse mit maßgeschneiderten Produkte und Dienstleistungen befriedigt werden.
Die Kunden und ihre Vorlieben will man möglichst besser kennen als diese sich selbst. Gelingt die Erfüllung von Kundenwünschen nicht durch neue Produkte, dann kann man sie immer noch durch eine optimal gesteuerte aktive Kundenansprache beeinflussen.
Effizienz als oberste Maxime
„Die Mineralölindustrie […] hat ihre Wertschöpfungskette lückenlos geschlossen. Von der Bohrinsel bis zur Tankstelle […] gibt es kein Geschäftsfeld mehr zu entdecken.“ Neue Kunden „sind schwer zu erobern“, Innovationen sind keine in Sicht. „Wenn es aber genügend Tankstellen […] gibt, wenn nach außen nichts mehr erobert werden kann, dann richtet sich die Aggression nach innen.“ – Das ist ein interessanter Gedanke: Streben nach Effizienz interpretiert als aggressive Eroberung auch der letzten Bereiche, Freiräume und Tätigkeiten in einem Unternehmen, die keinen oder einen zu geringen Wertbeitrag liefern. Wenn Angriffe auf die Konkurrenz keinen Erfolg mehr versprechen, da Waffengleichheit herrscht und jeder Marktbeteiligte über die gleichen Möglichkeiten und Mittel verfügt, dann werden Ressourcen und Energie frei für den zielgerichteten Zugriff nach innen und auf den Kunden. Das auf dem gemessenen Kundenverhalten basierende „aktive Verkaufen“ führt zu der besagten Kundenansprache, die Ausgangspunkt für die Recherche war und die wir als Konsumenten nur allzu gut selbst kennen. Die Firmenkultur eines solchen Unternehmens wird vor allem vom ‘Reich der Notwendigkeit’ bestimmt. Henning Sußebach assoziiert damit zu Recht „Getriebenes, Zwanghaftes“ sowie „Verkniffenes und Verspanntes“ – genau dies ist in diesem Umfeld zu erwarten.
Dass hier der Taylorismus fast noch in Reinkultur herrscht, dieser Schluss liegt nahe. Da verwundert eigentlich nur, dass von den Menschen, die am Ende der Kette alle Vorgaben von oben erfüllen müssen, noch ernsthaft eine eigenständige Bewertung erwartet wird, wann welches Verhalten im Kundenkontakt sinnvoll ist – eine genauso paradoxe Aufforderung wie „Sei doch mal spontan!“.
Digitalisierung als „Enabler“
Das alles ist im Prinzip nichts Neues, das kennen wir zur Genüge. In manchen Branchen ist das so, da geht es scheinbar nicht anders. Command & Control ist zwar ein Rezept aus der Vergangenheit, aber mit einem ganz bestimmten Menschenbild verbunden, das sich nach wie vor bei vielen Führungskräften findet. Das verschwindet auch nicht einfach von allein, nur weil ein neues Jahrtausend angebrochen ist.
Im Gegenteil: Zusammen mit den Möglichkeiten, welche die Digitalisierung von der Messung und Erfassung über die Automatisierung aller Abläufe bis hin zur Informationsverarbeitung und -distribution heute bietet, gewinnt dieses Rezept gegenwärtig anscheinend noch einmal an Attraktivität, kann sich neue Anwendungsgebiete erschließen oder vorhandene erweitern.
Stellen wir uns den Mineralölkonzern mit dem gleichen Steuerungsprinzip, aber ohne Digitalisierung vor: Wie würde diese – dann rein analoge – Praxis aussehen?
Alles, was heute in digitalisierter Form als Information elektronisch und automatisch übermittelt wird, z.B. direkt von der Kasse an die Firmenzentrale, und alle Steuerungsanweisungen – einfaches Beispiel: der Benzinpreis – müsste dann in analoger Form, d.h. wie früher auf Papier, via Fax oder per Telefon, übermittelt, dokumentiert, übertragen und manuell verarbeitet werden. Das bedeutet: wesentlich mehr Aufwand (vor allem manuell) und mehr Zeitaufwand für die Übermittlung von Informationen und Anweisungen. Vieles, was heute digitalisiert und automatisiert problemlos möglich ist, wäre nicht mehr praktikabel. Viele Entscheidungen müssten dezentralisiert getroffen werden, z.B. durch die Tankstellenpächter oder auch die Bezirksleiter, da sonst nicht schnell genug auf neue Informationen oder Umstände reagiert werden könnte. Eine Reihe von Informationsquellen, die heute den Verkauf steuern, könnte nur mit einem so erheblichen Aufwand erschlossen werden, dass sich ihre Nutzung nicht lohnt. Querverbindungen auf einer Ebene (siehe auch: Fayolsche Brücke) wären notwendig, um sich ohne den langen und zeitraubenden Umweg über die Zentrale abgleichen zu können.
Die Digitalisierung von Prozessen und die digitale Informationsverarbeitung ermöglichen heute offensichtlich eine umfassend zentralisierte Steuerung und Kontrolle auch in Bereichen, in denen dieses Unternehmenssteuerungsrezept in der Vergangenheit nur unvollständig oder gar nicht funktionierte. Und dies insbesondere für etablierte Geschäftsmodelle in einem gesättigten Markt. Zumindest oberflächlich.
Die analoge Perspektive
Welche Auswirkungen das auf die Menschen hat, die in diesem Umfeld vor allem in untergeordneter Position arbeiten, wird im Artikel ebenfalls beleuchtet: weniger Freiräume, mehr Kontrolle, weniger Einflussmöglichkeiten, weil Informationen nicht zugänglich sind, die (Verhandlungs-)Macht bedeuten, und vor allem weniger Gestaltungsspielraum. Die Menschen verhalten sich in dieser Umgebung, wie zu erwarten ist, wenn man entsprechend einem “Theory X“-Menschenbild führt. Und dies setzt uns Konsumenten letztendlich den penetranten Fragen nach der Payback-Karte und anderem aus.
Entsteht Unzufriedenheit und vor allem Groll, dann untergräbt dies die Loyalität zum Unternehmen und es werden Möglichkeiten gesucht und genutzt, um Dampf abzulassen. Unter der scheinbar konformen Oberfläche regt sich so ein latenter Widerstand: Der Autor des Artikels kann sich z.B. vor anonym zugetragenen Informationen kaum retten. Es existiert eine Art „informelle Gewerkschaft“ der Tankstellenpächter, in der interne Informationen, die z.B. durch ein technisches Versehen offenbar wurden, unter der Hand weitergegeben werden.
Eine hundertprozentige Kontrolle ist, schon wegen der ‘requisite variety’ auch mit digitalen Hilfsmitteln nicht zu erreichen; sie bleibt weiterhin eine Illusion – glücklicherweise, muss man konstatieren, denn eine menschenfreundliche Arbeitsumwelt sieht anders aus.
Bei meinem letzten Besuch einer Tankstelle des besagten Mineralölkonzerns wurde ich übrigens ‘enttäuscht’: Keine Nachfrage nach meiner Payback-Karte, kein “möchten Sie vielleicht noch ein Heißgetränk dazu?”, lediglich die erforderlichen Interaktionen und normalen Höflichkeitsfloskeln im Rahmen des Bezahlvorganges. Jetzt frage ich mich: Ist das ein Zeichen für die Wirksamkeit der Kontrolle – meine Phantasie: der Konzern hat auf das Dossier in der ZEIT sofort reagiert und bis auf Weiteres das aktive Nachfragen ausgesetzt – oder im Gegenteil für ihre Lückenhaftigkeit?
Soweit für jetzt.
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