Schnelles und langsames Denken /5: Ankereffekt

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Teil 5 meiner Notizen zu Daniel Kahnemans Buch “Schnelles Denken, Langsames Denken” 1 behandelt die durch den Ankereffekt verursachten kognitiven Verzerrungen.


Der Ankereffekt tritt auf, „wenn Menschen einen Wert für eine unbekannte Größe erwägen, bevor sie seine Größe abgeschätzt haben.“ (S. 147) Die späteren Schätzwerte bleiben jeweils nahe an dem zuvor angebotenen Wert, unabhängig davon, wie realistisch dieser „Ankerwert“ ist; auch völlig zufällig gewählte Ankerwerte erzeugen den gleichen Effekt.

Zum Ankereffekt liegen die zuverlässigsten und robustesten experimentellen Befunde vor; der Effekt wurde durch die verschiedensten Experimente und von unterschiedlichen Wissenschaftlern in verschiedensten Kontexten bestätigt.

Es existieren zwei verschiedene Erklärungen für den Ankereffekt, die beide richtig sind:

Der Ankereffekt als Mechanismus von System 2: Ankerung als Anpassung

  • Man geht von der Ankerzahl aus
  • Dann schätzt man ab, ob die Ankerzahl zu hoch oder zu niedrig ist im Vergleich mit dem gesuchten zu schätzenden Wert
  • Vom Ankerwert ausgehend bewegt man sich solange mental vom Anker weg, bis man nicht mehr weiß, ob man sich weiterbewegen soll
  • Die versuchte Anpassung benötigt Gründe, um sich vom Anker weiter weg zu bewegen
  • Die Anpassung endet in der Regel verfrüht, sodass die Anpassung ungenügend ist
  • Die Anpassung ist mit mentaler Anstrengung verbunden: Menschen korrigieren weniger stark, wenn ihre mentalen Ressourcen erschöpft sind (kognitive Beanspruchung oder z.B. nach Alkoholgenuss); die unzureichende Anpassung (also die durch den Ankereffekt verursachte kognitive Verzerrung ist die Folge eines Versagens eines schwachen oder trägen Systems 2).

Ankereffekt als automatische Manifestation von System 1: Ankern als Priming

  • Bei diesem zweiten Mechanismus wird der Ankereffekt durch einen Priming-Effekt hervorgerufen, ist eine automatische Manifestation von System 1 und erfolgt so ohne mentale Anstrengung.
  • Es läuft ein der Suggestion ähnlicher Prozess ab: „System 1 tut sein Bestes, eine Welt zu konstruieren, in welcher der Anker die richtige Zahl ist.“ (S. 151)
  • Beispielexperiment: Priming mit einer hohen oder niedrigen Jahresdurchschnittstemperator für Deutschland erleichterte das Erkennen von Wörtern mit Sommerbezug (Sonne, Strand) beim hohen Wert und von Wörtern mit Winterbezug (Frost, Ski) beim niedrigen Wert. Die hohen und niedrigen Zahlen aktivieren verschiedene Vorstellungskomplexe im Gedächtnis, sodass der Schluss valide ist, dass sich die schließlichen Schätzwerte wegen dieser Vorstellungswelten verzerrten.
  • In einem weiterem Experiment wurde nach dem Durchschnittspreis deutscher Autos gefragt: ein hoher Anker primte selektiv die Namen von Luxusmarken (Mercedes, Audi), ein niedriger Anker primte Marken (VW) für den Massenmarkt.

Messung des Ankereffektes: Ankerungsindex

Die Größe des Ankereffektes lässt sich quantifizieren und messen. Sie ist die Differenz zwischen den Schätzwerten geteilt durch die Differenz der Ankerwerte und wird in Prozent angegeben:

Ankerungsindex = (Schätzwert|hoch - Schätzwert|niedrig) / (Ankerwert|hoch - Ankerwert|niedrig) * 100%

Um den Wert zu messen, werden Experimente durchgeführt bei denen den Versuchpersonen entweder niedrige (Ankerwert|niedrig) oder hohe (Ankerwert|hoch) Werte als Anker angeboten werden. Anschließend werden sie nach ihrem Schätzwerten gefragt; der Schätzwert|hoch ist der Wert, der von den Versuchspersonen genannt wird, wenn ihnen zuvor der Ankerwert|hoch präsentiert wurde.

Ein Ankerungsindex

  • von 100% bedeutet dann, dass die Schätzwerte identisch sind mit den Ankerungswerten, die Beinflussung ist also maximal
  • von 0% bedeutet, dass keine Beinflussung durch die Ankerungswerte vorliegt

Typische Werte für den Ankerungsindex liegen zwischen 30% bis über 50%; der Ankerungseffekt hat also durchaus starke Auswirkungen.

Auswirkungen und Bekämpfung des Ankereffektes

Bei Verhandlungen, bei denen man sich nur über einen Punkt einigen muss – den Preis –, ist es von Vorteil, den ersten Zug zu machen und zuerst einen Preis zu nennen, der dann als Anker für die weitere Verhandlung wirkt.

Tipp: Wird von der Gegenseite ein „unverschämtes“ Angebot gemacht, dann nicht mit einem gleich unverschämten Angebot kontern (das würde für zukünftige Verhandlungen eine schwer überbrückbare Kluft schaffen), sondern stattdessen „eine Show abziehen“, die Verhandlung verlassen und sich und der anderen Seite unmissverständlich klarmachen, dass man die Verhandlungen mit dieser Zahl auf dem Tisch nicht fortsetzen wird.

Weitere Tipps zur Abwehr des Ankereffektes:

  • System 2 aktivieren, z.B. in dem bei Verhandlungen die Aufmerksamkeit fokussiert wird und das Gedächtnis nach Argumenten gegen den Anker durchforstet wird.
  • Sich auf das Mindestgebot, das der Verhandlungsgegner noch akzeptieren würde, konzentrieren.
  • Auf die Kosten fokussieren, die dem Verhandlungsgegner entstehen, wenn keine Einigung erzielt wird.
  • Bewusstes „Denken des Gegenteils“
  • Beachten: Jede Zahl, die uns dargeboten wird, hat einen Ankereffekt auf uns.

  1. Kahneman, D., & Schmidt, T. (2012). Schnelles Denken, langsames Denken. München: Siedler Verlag.