Schnelles und langsames Denken /6: Verfügbarkeits- und Affektheuristik

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Teil 6 meiner Notizen zu Daniel Kahnemans Buch “Schnelles Denken, Langsames Denken” 1 behandelt die durch die Verfügbarkeits- und Affekt-Heuristiken verursachten kognitiven Verzerrungen.


Verfügbarkeitsheuristik

Die sogenannte Verfügbarkeitsheuristik ersetzt eine schwere Frage durch eine einfacher zu beantwortende:

  • Schwierige Frage: Es soll die Größe einer Kategorie oder die Häufigkeit eines Ereignisses abgeschätzt werden.
  • Stattdessen wird die leichtere Frage beantwortet, wie leicht einem Beispielfälle eingefallen sind. Wie verfügbar sind Beispiele? Wie leicht fällt der Abruf von Beispielen aus dem Gedächtnis? („Abrufleichtigkeit“)

Die Verzerrungen entstehen dabei dadurch, dass es weitere Faktoren gibt, die es erleichtern, Beispiele zu generieren, z.B.:

  • Ein hervorstechendes (salientes) Ereignis, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht.
  • Dramatische Ereignisse in der jüngeren Vergangenheit.
  • Persönliche Erfahrungen, Bilder und anschauliche Beispiele

Neben der reinen Anzahl der verfügbaren Beispiele spielt auch die Leichtigkeit des Abrufs der Beispiele aus dem Gedächtnis ein Rolle in der Verfügbarkeitsheuristik. Ist die Leichtigkeit des Abrufs geringer als erwartet, so tritt ein paradoxer Effekt auf und die Beurteilung erfolgt entgegengesetzt zur Anzahl der generierten Beispiele.

Beispiel:
Probanden wurden aufgefordert, entweder 6 oder 12 Beispiele für die eigene Durchsetzungsfähigkeit aufzulisten; anschließend sollte die eigene Durchsetzungsfähigkeit auf einer Skala beurteilt werden. Diejenige Gruppe, die nur 6 Beispiele auflisten sollte (was noch relativ leicht fällt) beurteilten sich im Durchschnitt besser als die Probanden, die 12 Beispiele nennen sollten (was sicher schwerer ist). Gibt man eine Erklärung dafür, warum es schwer fällt, viele Beispiele zu generieren, dann verschwindet dieser paradoxe Effekt und die reine Anzahl der Beispiele ist ausschlaggebend für die Beurteilung.

Beispiele für Verzerrungen durch die Verfügbarkeitsheuristik: siehe S. 168-169 

Verfügbarkeitskaskade

Die „Verfügbarkeitskaskade“ ist eine sich selbst tragende Kette von Ereignissen, die vielleicht mit Medienberichten über ein relativ unbedeutendes Ereignis beginnt und zu öffentlicher Panik und massiven staatlichen Maßnahmen führen kann.

„Verfügbarkeitsunternehmer“‚ (z.B. Populisten) arbeiten daran, einen beständigen Fluss beunruhigender Nachrichten aufrechtzuerhalten.

Fremdbild vs Selbstbild

Wenn es um die Einschätzung der Größe der eigenen Beiträge im Vergleich zu den Beiträgen anderer kommt, dann summieren sich die von einer Gruppe von Menschen geschätzten einzelnen Beträge regelmäßig auf mehr als 100%, einfach weil einem das, was man selber tut, präsenter ist (im Positiven wie im Negativen).

Tipp:
In Konflikten, in denen es um die nicht ausreichende gegenseitige Würdigung der Einzelanstrengungen geht, kann dies zu einer Intervention genutzt werden:

  • Darauf hinweisen, dass normalerweise die Summe der subjektiven Anstrengungen über 100% liegt.
  • Die Einzelnen auffordern, sich in Erinnerung zu rufen, dass es schon vorkommen kann, dass man mehr leistet als die anderen. Dass man das subjektive Gefühl, dies zu tun, aber auch dann hat, wenn alle etwa gleiche Beiträge leisten.

Anfälligkeit für Verfügbarkeitsfehler

Menschen, die sich von System 1 lenken lassen, sind anfälliger für Verfügbarkeitsfehler als Menschen, die sich in einem Zustand erhöhter Vigilanz befinden.

Menschen sind besonders anfällig für die Beeinflussung durch die Abrufleichtigkeit, wenn…

  • sie gerade mit einer anderen anstrengenden Aufgabe beschäftigt sind
  • sie guter Laune sind
  • sie niedrige Werte auf einer Depressionsskala erzielen
  • sie sachkundige Neulinge (im Unterschied zu wahren Experte) sind
  • sie ein hohes Vertrauen in ihre eigene Intuition hegen
  • sie über Macht verfügen oder das Gefühl haben, Macht zu besitzen

Gegenmittel

Die Abrufleichtigkeit ist ein Mechanismus von System 1, der durch einen Inhaltsfokus ersetzt wird, wenn System 2 stärker beansprucht wird.

Man kann diese Verzerrungen entschärfen, indem man sich Fragen stellt, wie z.B. die folgende: „Ist unsere Einschätzung, dass Diebstähle durch Teenager ein großes Problem sind, nur darauf zurückzuführen, dass es in letzter Zeit in unserem Viertel einige Fälle gegeben hat?“

Und man kann sich an der obigen Liste orientieren, die Situationen beschreibt, in der Menschen besonders anfällig sind für diese Art der kognitiven Verzerrung und überlegen, wie das jeweilige Gegenmittel aussehen könnte:

  • Am einfachsten ist es offensichtlich darauf zu achten, keine intuitiven Entscheidungen treffen, wenn man gerade mit einer anderen (anstrengenden) Aufgabe beschäftigt ist.
  • Ich möchte eigentlich nicht dazu raten, sich selbst in schlechte Laune zu versetzen; auf die Werte, die man auf einer Depressionskala erzielt, hat man keinen Einfluss; zum Experten wird man meist auch nicht so schnell und Macht kann man ohnehin nicht an jeder Straßenecke kaufen.
  • Andererseits: Schlecht gelaunte Menschen und Menschen mit einer depressiven Grundstruktur werden oft zu Unrecht gering geschätzt, gerade im geschäftlichen Umfeld; aber wenn es um eine kritische Würdigung bei wichtigen Entscheidungen geht, sind sie oft vertrauenswürdiger und realitätsnäher als angeknipste Daueroptimisten. – Vielleicht versuchen Sie, diese Art von Kollegen zukünftig einmal in einem anderen Licht zu betrachten; sie spielen oft eine wichtige Rolle in einer Organisation und können sie vor Schaden bewahren.
  • Die im agilen Umfeld verbreiteten Schätzmethoden setzen Experten voraus; Anfänger werden zu oft auf die Erfahrungen ihrer jüngsten Vergangenheit hereinfallen.
  • Gerade wenn Sie über Macht verfügen, sollten Sie kritische Gegenpositionen und sachliche Kritiker hoch einschätzen, selbst wenn Sie Ihrem Bauchgefühl ansonsten sehr vertrauen. Bei wichtigen Entscheidungen machen Sie es sich zur Gewohnheit, sie erst in die Tat umzusetzen, wenn auch der Miesepeter, der sonst an allem fundierte Kritik übt, keine Einwände mehr vorbringen kann, die sie nicht entkräften können. Lassen Sie sich „challengen“, fordern Sie dies geradezu und honorieren Sie jede fundierte Kritik, statt sie als „Frechheit“ und „Aufmüpfigkeit“ zu sanktionieren. Wenn Sie wirklich Macht besitzen, dann können Sie Entscheidungen, wenn Sie sich sicher sind, auch gegen Bedenken durchsetzen.

Affektheuristik

Auch diese Heuristik ersetzt eine schwierige Frage durch eine leichtere Frage:

  • Schwierige Frage: Was denke ich darüber?
  • Leichte Frage: Welche Gefühle weckt das in mir?

Die Beeinflussung durch unsere Emotionen geht dabei sehr weit: Mögen wir z.B. eine bestimmte Technologie, so fallen uns mehr Vorteile ein als Risiken, die mit der Technologie verbunden sein könnten; wenn wir die Technologie nicht mögen, ist es genau umgekehrt.

Die Affektkohärenz als Teil der assoziativen Kohärenz sorgt darüber hinaus auch dafür, dass nach dem Herausstreichen der Vorteile einer Technologie, die Risiken der Technologien als weniger gravierend beurteilt werden, auch wenn zu den Risiken keinerlei Informationen gegeben wurden. D.h. Technologien, die große Vorteile haben, haben aus der Perspektive von System 1 geringe Risiken, vorteilhafte Technologien mit hohen Risiken „fühlen“ sich für System 1 nicht richtig an.


  1. Kahneman, D., & Schmidt, T. (2012). Schnelles Denken, langsames Denken. München: Siedler Verlag.