Elastisch oder flexibel?

Symboldbild für elastisch: Bambus
Tom Bayer / Fotolia

Seit mehreren Jahren schon benutze ich bei Xing das gleiche Motto:

Die Einhaltung von Standards, Regeln und Routinen ist wichtig: sinnvolle Regeln schaffen Raum für Wesentliches. Eine gewisse Elastizität kann dabei nicht schaden.

Elastizität habe ich damals bewusst der Alternative Flexibilität vorgezogen, mir aber nie Gedanken darüber gemacht, warum dies ein Unterschied ist. Das hole ich mit diesem Artikel nach. Zugegeben, er ist etwas länger geworden.

tl;dr: Wenn Ihnen das zu ausführlich ist, lesen Sie nur die Abschnitte Interim Conclusioni und konkrete Beispiele sowie Was braucht es also: Elastizität oder Flexibilität?

Synonyme und Bedeutung: Der kleine Unterschied

Das Wortpaar elastischflexibel sieht auf den ersten Blick unschuldig aus. Befragen wir zunächst den Duden:

  • Zu elastisch werden die Begriffe biegsam, dehnbar und federnd, aber auch geschmeidig (eher negativ konnotiert) und flexibel als Bedeutung genannt.
  • Zu flexibel erhält man die Bedeutungen biegsam und elastisch, aber auch an veränderte Umstände anpassungsfähig bzw. bei Entscheidungen wendig.

Der Wortschatz der Universität Leipzig erhält zusätzliche Synonyme. Wenn man die dort und im Duden und aufgeführten Synonyme gegenüber stellt, erreicht man eine weitere Differenzierung:

Elastisch

beweglich, biegbar, biegsam, dehnbar, flexibel, geschmeidig, nachgiebig, weich, federnd, gelenkig, geschmeidig, anpassungsfähig, wendig, schmiegsam, bruchfest, drahtig, gummiartig, leichtfüßig, wendig, fix, aufgeschlossen,reaktionsfähig, entscheidungsfreudig, modern, gewandt

Flexibel

beweglich, biegbar, biegsam, dehnbar, elastisch, federnd, gelenkig, geschmeidig, nachgiebig, schmiegsam, weich, anpassungsfähig, beweglich, offen, wendig, undogmatisch, veränderbar, veränderlich, beeinflussbar, formbar, empfänglich, gewandt, geschliffen, flink, entscheidungsfreudig, reaktionsfähig, aufnahmefähig, behende, leichtfüßig

Stark vereinfacht kann man es so ausdrücken:

Außenperspektive flexibel etwas/jemand ist leicht form- und veränderbar

Innenperspektive elastisch ich passe mich einer Belastung an

Gestützt wird dieser Eindruck wieder durch den Wortschatz; dort findet man zu elastisch die Erläuterungen „verformbar“, „nach Verformung wieder die ursprüngliche Form annehmend“, „sportlich“ und „kraftvoll“.

Zu flexibel wird man bei Wikipedia für die abgeleiteten Substantive Flexibilität und Flexibilisierung fündig. Flexibilität wird unter dem Gesichtspunkt der Anpassungsfähigkeit bzw. Akkommodation erläutert, die Flexibilisierung „in der Organisationstheorie“ [als] Prozess zur Erreichung einer erhöhten Agilität von Organisationen und Personen durch Reduzierung fester Regeln und festgefügter Strukturen„ verstanden.

Ohne näher darauf einzugehen, lassen sich daran weitere Eigenschaften der beiden Begriffe erkennen, dieses Mal bezüglich der Zeitdimension:

elastisch temporäre Änderung

flexibel dauerhafte Änderung

Polarforschung: Ins Extrem getrieben

Kommt man mit den Feinheiten nicht weiter, dann hilft es, sich den extremen Polen zu widmen, um eine Übersicht über das zu beackernde Feld zu erlangen.

Ist etwas oder jemand weder flexibel noch elastisch und das nicht im geringsten Maße, so bezeichnet man es/er/sie unbeweglich, fest, starr oder steif. An diesem Pol nähern sich beide Begriffe an und fallen zusammen; als Werturteil ist er für beide Begriffe negativ besetzt. Den Vorwurf „du bist aber unflexibel“ hört niemand gerne und darauf mit „in diesem Punkt bin ich es“ zu antworten, erfordert große innere Festigkeit. Einem sich unflexibel gebarenden und auf seine Vorschriften pochenden Angestellten einer beliebigen Verwaltung würde man Halsstarrigkeit oder Paragraphenreiterei attestieren und ihm seine Inflexibilität vorwerfen.

Wie sieht es aus, wenn man es zu weit treibt? Kann man zu flexibel sein, zu elastisch?

Würde man einem Menschen vertrauen, der seine Haltung und sein Wertesystem flexibel an die jeweiligen Umstände anpasst? – Sicher nicht, denn sofort fällt einem dafür „Opportunist!“ ein. Dieser zeigt sich flexibel in seiner Haltung und seinen bekundeten Werten (als elastisch würde man ihn wohl nicht bezeichnen). Es kann zwar in bestimmten Situationen opportun sein, etwas zu tun (was nicht per se schon negativ ist), aber als Opportunist möchten die meisten von uns nicht gelten.

„Geschmeidig“ ist ein Synonym für beide Begriffe und hat eine negative Konnotation. Man möchte nicht geschmeidig erscheinen, es hängt aber vom Kontext und vom Sprecher ab, ob geschmeidig eher als neutrale Charakterisierung oder abwertend verstanden wird. Zum Zeitpunkt der Wende (1989) war sicher auch das Synonym „wendig“ (siehe auch: Wendehals) nicht positiv besetzt.

Man merkt: Für beide Begriffe gibt es den Vorwurf, zu wenig davon zu haben.

Nur für die Flexibilität gibt es in der Sprachpraxis ein eindeutiges und als negativ empfundenes „zu viel“ davon – wenn die Haltung und die Werte eines Menschen gemeint sind. Sonst scheint man gar nicht flexibel genug sein zu können, wie wir gleich sehen werden.

Wir müssen alle flexibler werden!?

Elastizität und elastisch sind im Unterschied zu flexibel, Flexibilität und vor allem Flexibilisierung in der Wirtschaft wenig gebräuchlich, außer in Spezialgebieten: Elastizität ist ein Thema für Physiker und Maschinenbauer sowie in einer Spezialbedeutung für Ökonomen; das Ziel der Elastisierung schreiben sich nur Physiotherapeuten und Osteopathen auf die Fahnen.

Auf der anderen Seite gilt Flexibilität in jeder Hinsicht seit längerem als das Non-plus-ultra der Wirtschaft. Ohne Flexibilisierung, also einer normativ geforderten Steigerung der Flexibilität in Bezug auf was auch immer, können Sie Ihren Laden heutzutage auch gleich ganz dicht machen. Im Einzelnen geht es um die Flexibilisierung

  • der Arbeitszeit
  • von Arbeitszeitmodellen (Stichworte: Teilzeit, Lebensarbeitszeit)
  • des Arbeitsortes (Stichwörter: Mobilität, Mobilarbeit, Telearbeit)
  • der Arbeitsaufgaben (Tendenz: anspruchsvoller)
  • in Bezug auf die Erwerbsbiographie
  • von Beschäftigungsverhältnissen (Stichwörter: Gig Economy, Mini-Jobs)
  • von Lieferketten (verschiedene Sourcing-Strategien)
  • in Bezug auf die Anpassungsfähigkeit von Unternehmen an dynamisch sich ändernde Markbedingungen (Stichwort: „atmende Fabrik“)
  • im Sinne von „Agilisierung“ (was immer damit im Einzelnen auch gemeint wird)

usw.

Sofern es um das Verhältnis zwischen Unternehmen und ihren Mitarbeitern geht, wurde die Forderung nach mehr Flexibilität in der Vergangenheit vor allem von der Unternehmerseite in Richtung der Angestellten und Arbeitnehmer erhoben. In den letzten Jahren hat sich das teilweise geändert: Nun fordern Mitarbeiter von ihren Arbeitgebern mehr Flexibilität wie z.B. eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Familie abhängig von der jeweiligen Lebensphase. Aber auch weniger rigide Strukturen in den Aufbauorganisationen, „flachere Hierarchien“ und mehr Selbstorganisation statt starrer Command-Control-Mechanismen werden angemahnt. Für diese Aufweichung der Strukturen empfinde ich den Begriff „Elastisierung“ allerdings treffender als Flexibilisierung (später dazu mehr).

Interim Conclusioni und konkrete Beispiele

Es ist nicht das Gleiche, ob Sie bezüglich Ihrer Haltung flexibel oder elastisch sind. Flexible Arbeitszeiten sind nicht dasselbe wie eine elastische Zeitgestaltung – den letzteren Begriff verwendet übrigens anscheinend niemand.

Verhalten Sie sich als Mensch elastisch, so habe Sie zwar einen Standpunkt, versteifen sich aber nicht völlig auf ihn. Abhängig von den konkreten Umständen, sind Sie in der Lage, diesen Standpunkt zu einer Standfläche auszuweiten, deren Mittelpunkt – Ihr Standpunkt – immer existent und sichtbar bleibt.

Elastizität bei der Auslegung von Regeln gibt die Regel an sich nicht auf – im Normalfall gilt die Regel weiterhin uneingeschränkt – ist sich aber des unausweichlichen Eintretens des Ausnahmefalles bewusst und ermöglicht eine Einzelfallentscheidung, ohne die Regel als solche in Frage zu stellen. Die Einzelfallentscheidung muss gut begründet werden, im Normalfall ist die Einhaltung der Regel selbstverständlich und bedarf keiner Rechtfertigung. Eine wichtige Nuance darf aber nicht unerwähnt bleiben: Wenn Regeln immer vor dem Hintergrund der Möglichkeit ihrer elastischen Auslegung gedacht werden, dann können Sie sich nicht darauf berufen, dass Sie sich ja entsprechend der Regel verhalten hätten – wenn es um einen Einzelfall geht, der u.U. abweichend von der Regel hätte behandelt werden müssen. Das fordert persönliche und charakterliche Reife von den Menschen, welche die Regeln anwenden und entsprechend ihnen handeln.

Elastische Grenzen zeichnen sich durch einen gewissen Übergangsbereich aus, ein „Niemandsland“ rechts und links von der formalen Grenze. Bei einer zeitlichen Grenze, z.B. zwischen dem Ende des ersten Meetings und dem Beginn des nachfolgenden, ist die formale Grenze der Zeitpunkt – Dienstag, 22.11.2017 um 9.30 Uhr – an dem das erste Meeting endet und das zweite beginnt. Kurz vor diesem Zeitpunkt ist Ihnen das Ende des ersten Meetings wahrscheinlich schon bewusst und Sie wissen, dass gleich das zweite Meeting beginnt und fragen sich, was Sie dort erwartet. Nach dem Beginn des zweiten Meetings sind Sie vielleicht noch mit ihren Gedanken bei einem wichtigen Diskussionspunkt aus dem ersten Meeting und noch nicht fokussiert auf das gerade laufende. Es gibt also einen gewissen Übergang, etwas hat noch nicht richtig begonnen, das vorhergehende ist nicht gänzlich abgeschlossen; die eigentliche Grenze wird aber nicht angetastet.

Eine flexible zeitliche Grenze ist etwas anderes: Das erste Meeting kommt zu keinem Ende, weil die Diskussion ausufert. Das Meeting wird nicht zum geplanten Zeitpunkt beendet, sondern läuft einfach weiter: „Wir müssen das jetzt ausdiskutieren und zu einer Entscheidung kommen.“ Das nachfolgende Meeting kann daher nicht wie gedacht beginnen – der Raum ist der gleiche oder wichtige Teilnehmer für das zweite Meeting sind noch durch das vorhergehende okkupiert. Ist Flexibilität das zugrundeliegende Prinzip, dann gilt die formale zeitliche Grenze wenig: sie ist es, die flexibel verschoben wird, eigentlich gibt es sie kaum; sie kann jederzeit aufgehoben werden und ist nicht verlässlich.

Flexibilität bedeutet immer eine gewisse Entgrenzung.

Elastizität zeigt sich in der Verbreiterung von Grenzen im Sinne eines Übergangsbereiches.

Ein nur zu bekanntes und vertrautes Beispiel für flexible Zeitgrenzen sind Projekte, deren Meilensteine und Deadlines immer wieder und meistens dann nach hinten verschoben werden. Da man nicht genau weiß, ob und wie gut die zeitliche Planung beim Bau der Pyramiden eingehalten wurde, muss als aktuell prominentestes Beispiel für die Unverbindlichkeit einer zeitlichen „Planung ohne Grenzen“ einmal mehr der Berliner Hauptstadtflughafen BER herhalten.

Was braucht es also: Elastizität oder Flexibilität?

Dies ist ein Blog über Menschen und Organisationen, daher steht am Schluss dieser ganzen Überlegungen die Frage: Ist es für Menschen und Organisationen besser, flexibel oder elastisch zu sein?

So einfach ist die Entscheidung und eine endgültige Antwort leider nicht.

Zunächst das Offensichtliche: Es ist keine gute Idee, zu flexibel oder zu elastisch zu sein bzw. sich zu verhalten, egal in welcher Hinsicht und unabhängig davon, ob es nur um Sie als Individuum geht oder das Verhalten einer ganzen Organisation betrifft.

Die Gegenpole sind ebenfalls zu vermeiden: Inflexibilität und mangelnden Elastizität führen zu Starrheit und Unbeweglichkeit; das läuft im Prinzip auf das Gleiche hinaus.

Arbeitshypothesen und Gedanken

  • Menschen sind im besten Fall elastisch, nicht flexibel; wird letzteres versucht, ist das mit erheblichen Folgen für das Individuum verbunden.
  • Genauso ist Elastizität – nicht Flexibilität – für Führungskräfte und bei der Führung anderer angebracht: Haltung zeigen statt unkritischer Orientierung an Management-Moden und Trends.
  • Erforderlich ist eine möglichst gute Passung zwischen der eigenen Persönlichkeit und der vom Unternehmen geforderten Rolle – eine flexible Anpassung der eigenen Persönlichkeit an die Anforderungen des Unternehmens funktioniert auf Dauer nicht oder ist mit immensem Energieaufwand verbunden: Im Krisenfall und unter Stress fällt man sowieso in seinen „Default Mode“ zurück
  • Werte an sich sind weder elastisch noch flexibel. Da in konkreten Lebenssituationen aber fast immer Konflikte zwischen konkurrierenden Werten auftreten – diesbezüglich eindeutige Situationen, die nur anhand eines einzigen Wertes bewertet und entschieden werden können, scheinen mir eher selten zu sein – ist eine Elastizität bzgl. der Toleranz für die Erfüllung von Werten durch das eigene konkrete Handeln und das der anderen besser als Starrheit: es muss ein „gut genug“ geben.
  • Regeln sollten mit Bedacht formuliert, mit einer gewissen Elastizität ausgelegt und mit einer Sensibilität für den Einzelfall angewendet werden.
  • Im Normalfall kommen Unternehmen gut mit Elastizität bezüglich ihrer Marktanpassung und bei ihren inneren Strukturen sowie Prozessen aus. (Stichwort: „atmendes Unternehmen“ – gemeint ist hier nicht: Schnapp- oder Hechel-Atmung).
  • Für die Umsetzung dauerhafter Änderungen ist eine gemäßigte Flexibilität der Innenorganisation und im Verhältnis zwischen Unternehmen und Umwelt wichtig.
  • In Zeiten „disruptiver“ Umwälzungen ist eine Flexibilität bis nahe an die Grenze zur Dissoziation erforderlich; dies führt unweigerlich zu internen Konflikten.
  • Die gebetsmühlenhaft geforderte Flexibilisierung erscheint mir unmäßig und grenzenlos: als ob man die Flexibilität von Menschen und Unternehmen bis ins Unendliche steigern könnte. Ein Unternehmen steht dann für „alles“ und damit für „nichts“. Die meisten Menschen sind damit in jedem Fall überfordert.

Soweit für jetzt.

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