Verarmung der Kultur durch Digitalisierung?

Straßenszene mit Bus unter Hochbahn in Bangkok als Beispiel für Auswirkungen der Digitalisierung auf die Kultur
Foto: Martin Holle

Ihre gesamte Ausstattung besteht aus einer mehr oder minder variierenden Uniform und einem an der Längsseite über ein Scharnier aufklappbarem Metallzylinder, der an beiden Enden verschlossen ist. In dieser Röhre bewahren sie die Einnahmen aus dem Verkauf der Fahrkarten, die Wechselgeldmünzen und die Fahrkartenrollen auf. Ihr Kommen kündigen sie den Fahrgästen mit einem lauten metallisch klingenden Rasseln an, das sie durch das Schütteln des Metallzylinders mit den Münzen erzeugen; auch Touristen, die in den Stadtbussen von Bangkok im Übrigen sehr selten anzutreffen sind, wird dann schnell klar, dass jetzt eine Fahrkarte zu lösen ist: Busschaffner in Bangkok. Ist in diesen Bussen kein Schaffner an Bord, dann ist die Fahrt umsonst – jedenfalls dann, wenn die entsprechende Linie nicht schon auf Fahrkartenautomaten umgestellt ist.

Die Metallröhre hat noch weitere wichtige Funktionen:

Zum einen enthält sie die Rolle(n) mit den Fahrscheinen: Löst man eine Fahrt, so zieht die Schaffnerin die erforderlich Anzahl von Fahrscheinen durch den seitlichen, von der Klappe gebildeten Schlitz heraus, reißt sie ab, legt die abgerissenen Fahrscheine dann noch einmal längs über die Kante der Röhre und schließt kurz die Klappe, um die Fahrscheine von oben nach unten durch einen Längsriss zu entwerten. Das Ganze macht sie mit großer Fingerfertigkeit und in rasender Geschwindigkeit, während der Bus über Straßenunebenheiten holpert und die Fliehkraft die Schaffnerin hin und her schubst.

Fahrscheine werden nicht nur mit Münzen, sondern auch mit Geldscheinen bezahlt. Diese werden nicht im Metallrohr aufbewahrt, sondern klemmen stets griffbereit zwischen den Fingern der Hand, die auch die Röhre hält. Auch hierbei spielt der Metallzylinder eine Rolle: damit werden die Geldscheine der Kunden zunächst geglättet und dann längs in der Mitte gefaltet, damit der Schaffner sie wie einen Strauß Blumen zwischen den Fingern auffächern kann.

Bei der Vielseitigkeit dieses eigentlich sehr einfachen, aber in der Hand eines erfahrenen und geübten Schaffners sehr wirkungsvollen und multifunktionalen, Werkzeuges könnte man sich fragen, welches Verhältnis ein Schaffner zu seinem Werkzeug hat? Ist es nur ein Mittel zum Zweck, wird es gehasst oder geschätzt? Sichtbar ist, dass viele das Metall der Röhre mit einer mehr oder weniger bunten und phantasievoll verzierten Hülle umgeben; Schaffnerinnen bevorzugen anscheinend Blumendekors.

Rollengestaltung

Keine Schaffnerin ist wie die andere: Man findet weibliche Feldwebel, die sitzende Fahrgäste vehement und unmissverständlich auffordern, den Sitzplatz für eine ältere Thai zu räumen, wenn man nicht schnell genug reagiert. Unzweifelhaft hat sie ihren Bus im Griff, in ihrem Revier ist nichts erlaubt, was ihre Missbilligung hervorruft. Auf einer anderen Route wird der Busschaffner durch einen jungen, etwas dicklichen Alleinunterhalter personifiziert, dessen wichtigste Aufgabe darin zu bestehen scheint, den Fahrer mit Musik zu unterhalten und für ihn Besorgungen außerhalb des Busses zu machen. Essen besorgt er von Suppenküchen am Straßenrand. Chips, Getränke, Eiswürfel zum Kühlen der Getränke und einzeln abgepackte Zigaretten kauft er in kleinen Geschäften oder bei Straßenhändlern. Dafür wartet der Bus auch schon einmal etwas länger auf ihn. Während der Fahrt lümmelt er auf einer Multifunktionsfläche über dem Motor neben dem Fahrer, unterhält sich mit ihm und spielt ihm Musikstücke auf seinem Handy vor. Die Bandbreite der Persönlichkeiten und des Rollenverständnisses reicht bis zu einer älteren Frau, die einfach nur ihren Dienst tut – mürrisch.

Vom Analogen ins Digitale

Der oben beschriebene Prozess hat nichts Digitales – wenn man vom Handy des jungen Nachwuchstalentes absieht. Aber natürlich gibt es in Bangkok schon Buslinien, insbesondere die mit den neueren klimatisierten Bussen, auf denen Fahrkartenautomaten eingesetzt werden – die Hochbahnen funktionieren sowieso nur so. Schaffner und ihre sehr speziellen Fähigkeiten werden dann nicht mehr benötigt; die Besatzung eine Busses besteht dann in der Regel nur noch aus dem Busfahrer. Wer keine Dauerkarte besitzt, holt sich eine Fahrkarte am Automaten. Ziel dieser Umstellung ist natürlich immer auch, Kosten einzusparen. Sobald es gelingt, immer wieder kehrende Tätigkeiten zu automatisieren, kann Personal eingespart werden. Im Unterschied zur Luftfahrt, wo dies mit der Umstellung auf zweiköpfige Cockpit-Besatzungen durch Verzicht auf den Flugingenieur und die Übertragung seiner Aufgaben auf Flugkapitän und Copilot erfolgte, geht dies beim öffentlichen Nah- und Fernverkehr immer auch mit einer Verlagerung von Tätigkeiten auf den Kunden einher: hat der Schaffner vorher aktiv Fahrkarten feilgeboten, verkauft, entwertet und an den Fahrgast ausgehändigt, so werden mit der Einführung von Fahrkartenautomaten diese Tätigkeiten an den Kunden delegiert, dem die Verpflichtung dazu mit den Beförderungsrichtlinien auferlegt wird. Statt der Busschaffnerinnen gibt es nur noch Kontrolleurinnen, die stichprobenartige Kontrollen durchführen. Kontrolleure sind allerdings nur für die Überwachung der Regelbefolgung zuständig und verteilen ggf. Sanktionen. Schaffner haben zwar auch eine kontrollierende Funktion, aber vor allem verkörpern sie eine Dienstleistung und ermöglichen eine individuelle Rollengestaltung. Damit sind sie gestaltender Teil einer Kultur, die sich ändert, wenn statt ihrer Automaten eingesetzt werden.

Kulturelle Verarmung durch Digitalisierung?

Subjektiv, als Tourist in einer für mich fremden Kultur, erscheint mir vieles, was Einheimischen vertraut und für sie einfach selbstverständlicher Teil des Alltags ist, als neu und interessant, um es mit dem farblosesten und neutralsten Adjektiv zu bezeichnen, das mir in diesem Zusammenhang einfällt. Das menschliche Bewusstsein reagiert vor allem auf Unterschiede, auf Differenzen zwischen dem Erwarteten oder Gewohnten und der erlebten Realität. Nicht überraschend also, das mir die Busschaffnerinnen aufgefallen sind. In Deutschland gibt es sie seit vielen Jahren nicht mehr, für die Bewohner von Bangkok gehören sie (heute noch) zum Alltag.

Vielleicht werden die Einwohner von Bangkok die Busschaffner in einer zukünftigen Version ihres Alltags gar nicht vermissen: Möglicherweise nervt Einheimische das ständige metallische Rasseln der Schaffner mit dem Rohr. Wollen sie wirklich einem jungen Schnösel weiter dabei zusehen, wie er sich in seiner Rolle produziert? Und sie könnten es auch lästig finden, aufgefordert zu werden, den Platz für einen alten Menschen freizumachen – so jung ist man selber nicht mehr, der eigene Job ist ziemlich anstrengend und müde ist man auch. Der Wegfall dessen, was mir heute auffällt, weil es als Teil einer mir fremden Kultur auftritt und das ich vermissen würde, wenn es nicht mehr existierte, könnte für diejenigen, für die es heute Alltag ist, ein Fortschritt sein und von ihnen als Verbesserung der Lebensqualität empfunden werden. Was ich als kulturelle Verarmung bezeichne, könnte für sie ein Zeichen des Fortschritts darstellen. Oder wünschen Sie sich in Deutschland die Zeit der Bus- und Bahnschaffner zurück? Vermissen sie sie etwa? – Wahrscheinlich nicht.

Mal abgesehen vom konkreten Fall, der mir wegen der subjektiv empfundenen Exotik aufgefallen ist: Spricht in diesen und ähnlichen Fällen etwas dafür, dass die menschliche Kultur in der Gefahr schwebt, durch die Digitalisierung vorher analoger Prozesse zu verarmen?

Vereinfacht kann man Kultur verstehen als alles, was von Menschen hervorgebracht wird. Den Reichtum einer Kultur kann man dann an der Bandbreite dessen bemessen, was sie erschafft. Mit dieser Definition ist die Antwort einfach:

Alles, was die Vielfalt kultureller Äußerungen verringert, stellt eine kulturelle Verarmung dar.

Wie eine öffentliche Rolle – wie die des Busschaffners in meinem Beispiel aus Bangkok – von einem Rolleninhaber ausgefüllt wird, hängt davon ab, wie er die Rolle versteht. Dafür gibt es innerhalb gewisser Grenzen, die durch Pflichten und Restriktionen einer Rolle gesetzt sind, immer einen Spielraum. Und der wird auch tatsächlich genutzt, wie die Phänomenologie der obigen Beispiele deutlich zeigt.

Wird die individuell ganz unterschiedliche Personifizierung einer öffentlichen Rolle durch einen technisierten, digitalen Prozess mit einer einheitlichen Benutzeroberfläche und einer immer gleichen Abfolge von Transaktionsschritten ersetzt, dann stellt das ohne Zweifel eine Verarmung der kulturellen Vielfalt, eine kulturelle Verarmung dar.

Kulturelle Verarmung als Argument gegen die Digitale Transformation

Ist die kulturelle Verarmung also ein Argument, das gegen die Digitale Transformation spricht? Anders formuliert: ist sie eine negative Folge der Digitalisierung, gegen die man Vorkehrungen treffen sollte, um sie abzumildern?

Dummerweise ist der Begriff der “Kultur” ein positiv konnotierter, es schwingen angenehme Assoziationen mit, wenn man an Kultur denkt. An sich wertet der Kultur-Begriff aber nicht, er beschreibt, was ist. Zu den kulturellen Äußerungen kann man durchaus auch Rassismus, Diskriminierung, Unterdrückung oder gar Verfolgung von Minderheiten, patriarchalische Gesellschaftsstrukturen, Unterdrückung von Frauen, usw. rechnen. Eine “Verarmung” einer Kultur um diese Aspekte würde ich jederzeit als wünschenswert befinden; die Heilige Inquisition zur Verfolgung von Ketzern inkl. der Anwendung von Folter bei der Vernehmung von Angeklagten vermisse ich als kulturelle Äußerung ebenso wenig wie die dazugehörige mittelalterliche Gesellschaft.

Ohne einen wertenden Maßstab kommt man bei der Frage nicht weiter, ob die Digitale Transformation positive oder negative Auswirkungen auf die Kultur einer Gesellschaft hat.

Die gemeinsamen Werte einer Gesellschaft und unsere persönlichen Werte, meine ebenso wie Ihre, entscheiden darüber, ob Digitalisierung positiv oder negativ beurteilt wird. Um den Diskurs über den Wertekanon, der der Beurteilung der Auswirkungen der Digitalen Transformation zugrunde gelegt werden soll, kommen wir bei der Auseinandersetzung mit der Digitalen Transformation unserer Arbeit, von Kommunikation und Interaktionen, unserer institutionellen bzw. staatlichen Abläufe und Prozesse – unseres ganzen Lebens – nicht herum.

Soweit für jetzt.

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