Auf den Schultern von Riesen stehend auf etwas einzahlen

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Als Zwerge auf den Schultern von Riesen stehend auf etwas einzahlen, indem wir einfach mal was machen, damit wir am Ende des Tages (bottomline) auch Resultate sehen.

An welchem Tag sind wir eigentlich von den Schultern der Riesen wieder herunter gestiegen? Und waren wir am Ende dieses Tages nicht einfach müde und freuten uns auf unser wohlverdientes Feierabendbier statt auszurechnen, was bottomline herausgekommen ist bei dieser Klettertour? Darüber, einfach mal was zu machen, habe ich mich an anderer Stelle schon ausgelassen.

Mehr oder weniger verbrauchte Bilder und Worthülsen

Zum wiederholten Male geht es mir so: Ich stolpere das erste Mal über eine bestimmte Redewendung und verstehe nicht sofort, was der Vortragende oder der Autor damit wohl meinen könnte. Nur wenig später fällt mir auf, dass diese Phrase gefühlt in jedem zweiten Vortrag oder Artikel auftaucht („gefühlt“ gehört übrigens auch dazu). Wenn mir das auffällt, wird sie mir auch schon zu viel: ich will sie nicht mehr hören! – Es ist schwer, immer originell zu sein, aber geborgte Originalität ist schwerer auszuhalten als gar keine.

Abgesehen vom inflationären Gebrauch solcher Phrasen, der unter ästhetischen Gesichtspunkten manchmal schwer erträglich ist1, haben diese Phrasen auch Nebenwirkungen, über die man sich zumindest im Klaren sein sollte. Sie sind nicht umsonst erfolgreich, sondern weil sie als Metapher (als Bild) so einprägsam sind – auch dann, wenn man sie nicht sofort versteht.

Metaphern sind ein mächtiges sprachliches Mittel, gerade weil sie als Bild auf unseren Geist wirken, den man zumindest teilweise als Assoziationsmaschine verstehen darf. Sie lösen dort Assoziationskaskaden aus, d.h. aktivieren weitere, mit dem ursprünglichen Bild verbundenen Begriffe, Bilder und Erinnerungen. Eingängige Bilder statt abstrakter Begriffe zu verwenden, steigert die Wirkung und Argumentation von Artikeln oder Vorträgen. So weit, so gut.

Aber Metaphern können auch einlullen, uns in einem wohligen Gefühl des Verständnis und der Übereinstimmung wiegen, während vielleicht eher kritisches Denken bei der Rezeption gefragt wäre.

Am Ende des Tages

Dieser eingedeutschten Phrase bin ich auch in ihrer ursprünglich englischen Version „at the end of the day“ überdrüssig. Als Bild ist sie trotzdem mächtig. Je nach Erfahrungshintergrund des Zuhörers werden andere Bilder aktiviert: Mit den Kollegen in der Cocktailbar am Abend einen gelungenen Abschluss feiern oder aber auch, müde nach Hause zur Familie zu fahren und den anstrengenden Tag im Stau stehend noch einmal Revue passieren lassen.

Bottomline

Höre ich „bottomline“, evoziert dies bei mir das Bild eines Buchhalters im steifen Gehrock und weißen Ärmelschutzüberzügen, der am Stehpult steht und sich über das Hauptbuch beugt.2 Aktueller ist das Bild eines Controllers, der über riesigen Excel-Sheets brütet und verzweifelt nach einem Fehler in einer Formel sucht, die ihm das Ergebnis versaut. – Beide Bilder haben eines gemeinsam: Es geht um Zahlen und um die Abbildung der Realität in Zahlen, die addiert, subtrahiert, multipliziert, dividiert, usw. werden können. Am Ende – bottomline oder unter dem Strich – steht eine einzige Zahl als Ergebnis, die Erfolg oder Verlust bedeutet. Hierin sehe ich auch das Problematische dieser Metapher: Eine komplexe Wirklichkeit wird eindimensional auf Kennzahlen abgebildet. Diese Vereinfachung und damit einhergehende Verfälschung der Realität bei der Modellbildung wird im Endergebnis – bottomline – dann nicht mehr mitgedacht. Ob die Abbildung bei der Modellbildung zulässig war, entscheidet aber darüber, ob die „Bottomline“ überhaupt irgendetwas Handlungsleitendes aussagt.

Kontoführung

Wenn wir schon beim Thema Buchhaltung sind: Auch „einzahlen“ bewegt sich in dieser Kategorie. Man zahlt auf ein Konto ein (oder auch nicht). Über die Höhe des Kontos wird Buch geführt. Ein Guthaben kann man sich später auszahlen lassen. Guthaben werden verzinst, für negativen Guthaben muss man Zinsen zahlen. All das gehört zu diesem Bild – und mehr ist es nicht: eine Metapher. Abgesehen von der ästhetischen Wirkung bei inflationärem Gebrauch dieses Verbs, kommt es also immer auf den Kontext an, in dem davon gesprochen wird, auf etwas „einzuzahlen“: Passt der Begriff eines Kontos dazu oder eher nicht?

Fehlen noch die Zwerge auf den Schultern von Riesen

Und ganz zum Schluss ein paar Gedanken zu den breiten Schultern von Riesen, auf denen wir es uns bequem machen können, weil wir nicht mehr den ganzen Aufstieg bewältigen müssen.

Was meint dieses Bild ?

Folgt man dem sehr informativen Wikipedia-Artikel, dann sieht der Redner/Autor sich selbst oder uns heute als Zwerge im Vergleich zu den Riesen, die in der Vergangenheit erst den Fortschritt ermöglicht haben, der uns heute so weit blickend lässt. Es ist eine Metapher für den menschlichen Fortschritt, der aus vielen kleinen Schritten besteht, die aufeinander aufbauen. Nicht nur der Fortschritt der Menschheit insgesamt kann gemeint sein, sondern auch der in einzelnen Wissens- oder Technologie-Bereichen. So weit, so nachvollziehbar; jeder nickt mit dem Kopf und sagt sich: „Stimmt!“.

Wodurch kann es uns in die Irre führen?

Der menschliche Fortschritt ist nicht zwangsläufig und garantiert – es geht nicht immer aufwärts, irren tut man sich immer in der Gegenwart und der nächste Schritt ist immer der schwerste, weil ihn noch niemand gegangen ist.

Die Riesen aus unserer heutigen Perspektive waren gestern, in ihrer eigenen Gegenwart, selber Zwerge und können sich geirrt haben. Es ist zwar N. N. Taleb zuzustimmen, der meint, er würde Ideen und Erkenntnisse umso mehr trauen, je älter sie seien und je länger sie sich schon bewährt haben – Neues ist nicht deshalb schon besser als das Bewährte, nur weil es neu ist. Genauso teile ich aber auch den Standpunkt von Siri Hustvedt, die in ihrem Buch „Die Illusion der Gewissheit“ 3 (im Übrigen eine klare Leseempfehlung!) schreibt: „Gute Ideen gehen immer wieder verloren, und schlechte Ideen tragen häufig den Sieg davon. Manchmal finden sich gute Ideen wieder, aber keineswegs immer.“

Zum Ausruhen besteht also keine Veranlassung. Man sollte sich selber auch nicht kleiner machen als man ist und sich so klammheimlich aus der Verantwortung stehlen. Auch ein heute als selbstverständliche Basis für alles Weiterdenken erscheinende Werk der Riesen aus der Vergangenheit, könnte einen Schwachpunkt haben oder eine „schlechte Idee“ gewesen sein.

Und nun?

Ich warte jetzt auf das nächste neue Sprachbild, das mir über den Weg läuft: Zumindest die ersten paar Male wirkt es noch neu, frisch und unverbraucht.

Und im besten Fall regt es mich an und nicht auf.

So weit für jetzt.


  1. Phrasendrescherei als ansteckende Krankheit in den ICD-10-Katalog aufzunehmen, ginge mir allerdings zu weit. 

  2. So alt kann er doch nicht sein, mögen Sie vielleicht denken. Bin ich auch nicht, aber in jungen Jahren Charles Dickens zu lesen, hilft bei der Entwicklung solcher Vorstellungsbilder. 

  3. Hustvedt, S., & Seifried, B. (2018). Die Illusion der Gewissheit. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Verlag GmbH. 

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